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Politische Kindermedizin ist eine Plattform engagierter Kinder- und Jugendmediziner*innen und anderer im Kinder- und Jugendbereich engagierter Berufsgruppen.

Zum Welt-Autismus-Tag - 02. April 2024

Geschrieben am .

Wie jedes Jahr seit einem Beschluss der Vereinten Nationen aus 2007 wird am 02. April 2024 der Welt-Autismus-Tag veranstaltet.

In aller Welt erstrahlen Gebäude blau in Anlehnung an das Logo der Autism Speaks Bewegung. Der Tag soll entsprechend Aufmerksamkeit für
das Thema Autismus wecken und schärfen, aber auch darauf hinweisen, wie wichtig Früherkennungsmaßnahmen sind.

Der geschichtliche Hintergrund von Autismus geht maßgeblich auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler zurück, der den Begriff erstmals 1911 in seinem Werk „Dementia praecox“ oder „Gruppe der Schizophrenien“ verwendet hat. Er hat den Autismus der Schizophrenie zugeordnet.

Beide Erstbeschreiber des Autismus waren Österreicher und haben in ihren Publikationen eine Abgrenzung zur Schizophrenie vorgenommen,
der erste Schritt auf dem Weg zur Zuordnung als tiefgreifende Entwicklungsstörung, was bis heute gilt.

Leo Kanner, der in den USA gearbeitet hat, und der Wiener Hans Asperger haben 1943 bzw. 1944 Kinder beschrieben, die große Defizite in den kommunikativen und sozialen Kompetenzen haben, wobei Hans Asperger eine andere Form von Autismus beschrieb, nämlich Kinder mit besseren sprachlichen Fähigkeiten und normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz.

Über die Jahrzehnte hat sich die Klassifikation mehrfach verändert. Heute sprechen wir von Autismus-Spektrum-Störungen, vor allem im DSM-5 (die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), dem im angloamerikanischen Raum geltenden Klassifikationssystem, ebenso wie in der ICD 11.

In Österreich codieren wir noch großteils nach ICD-10 und unterscheiden hauptsächlich zwischen den Kategorien
- Frühkindlicher Autismus, F84.0
- Atypischer Autismus, F84.1 und dem
- Asperger-Syndrom, F84.5

Der Frühkindliche Autismus manifestiert sich vor dem dritten Lebensjahr und zeigt eine auffällige Entwicklung im Bereich der Sprache, sozialen Kommunikation bzw. Interaktion und in repetitiven und stereotypen Verhaltensmustern. In bis zu 30% der Fälle liegt eine deutliche Intelligenzminderung vor.

Beim Asperger-Syndrom fehlt definitionsgemäß eine Sprachentwicklungsverzögerung und es liegt eine unauffällige kognitive Entwicklung vor.

Der Atypische Autismus unterscheidet sich entweder durch das Alter bei Krankheitsbeginn oder die diagnostischen Kriterien sind nicht in allen drei Bereichen erfüllt.

Die Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen wird mittlerweile durchschnittlich mit 1% angegeben. Die Zunahme der Diagnosen ist nicht gänzlich geklärt. Einerseits handelt es sich um eine erhöhte Aufmerksamkeit dieser Patient*innengruppe gegenüber, verbesserte Diagnostik bzw. unterschiedliche Diagnosekriterien. Allerdings wird auch eine reale Zunahme der Kinder diskutiert und kann nicht definitiv ausgeschlossen werden.

Das Geschlechterverhältnis beträgt beim Frühkindlichen Autismus 4 (männlich) : 1 (weiblich) bzw. beim Asperger-Syndrom 8 (männlich) zu : 1 (weiblich). Diese Zahlen spiegeln sich auch bei uns in den Zahlen der Inanspruchnahme des Autismuszentrums wieder:

Gesamt 343
• 280 männlich (82%)
• 63 weiblich (18%)

Bereits die Erstbeschreiber postulierten eine sehr hohe Erblichkeit, da sie Ähnlichkeiten zwischen Kindern und ihren Eltern, besonders den Vätern, beobachten konnten. Dies ist heute unbestritten, allerdings kommen derzeit ca.1000 Kandidaten gene in Frage. Für die hohe Erblichkeit sprechen das massiv erhöhte Risiko für Geschwisterkinder, ein früher Beginn, eine hohe Komorbidität mit anderen neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie, Intelligenzminderung und die bekannten Assoziationen zu anderen syndromalen Erkrankungen wie zum Beispiel dem Down Syndrom.

Darüber hinaus gibt es auch Umweltfaktoren, vor allem das höhere Alter der Eltern, das auch im Diskurs über den Anstieg der Diagnosezahlen
immer wieder als Ursache genannt wird, vor allem das Risiko bei erhöhtem Alter der Väter (über 40 Jahre).

Es finden sich allerdings auch viele neuroanatomische und neurobiologische sowie biochemische Auffälligkeiten und auffällige Befunde aus den Bildgebungen, abgesehen von den neuropsychologischen Erklärungsmodellen, beginnend von der Theory of Mind (ToM) bis zu Spiegelneuronen etc.

Was von den Selbstbetroffenen und Selbstvertretungsgruppen sehr stark betont wird, sind die mannigfaltigen Wahrnehmungsauffälligkeiten, die alle Sinnessysteme, nämlich das visuelle, das auditive, das vestibuläre, das taktile, das taktilkinästhetische, das propriozeptive, das olfaktorische und das gustatorische System betreffen. Die Bedeutung unterschiedlicher Wahrnehmung, aber auch die Verarbeitung von Sinnesreizen (sensorische Integration) wird von vielen als Schlüssel zum Verständnis von Autismus gesehen. Diese gehen davon aus, dass Menschen mit Autismus auf unterschiedliche Reize in den Systemen über- oder unterempfindlich reagieren können. Davon ausgehend kommen sie zu der Annahme, dass bei Autisten relativ schnell ein sogenannter „sensorischer Overload“ von Sinneseindrücken entsteht, was wiederum gesteuert über die Amygdala zu Flucht-, Kampf- oder Freezereaktionen führt.

Tatsache ist, dass das klinische Bild des Autismus sehr bunt ist, dass es keine einheitliche kausale Ursache gibt und die Diagnostik nach wie vor bezogen auf einer Beurteilung des Verhaltens, wenn auch nach standardisierten Methode erfolgt.

Unsere Aufmerksamkeit sollte vor allem der Früherkennung dienen, daher ist auch das Screening von Geschwisterkindern, die mit einer Häufigkeit von 2-6 % von Autismus betroffen sind und zu 20 % von anderen Entwicklungsauffälligkeiten, ein zukünftig interessanter Ansatz.

Früherkennung

Nach wie vor werden Kinder zum Teil sehr spät einer noch immer nicht ausreichend flächendeckend und kostenfrei zur Verfügung stehenden Diagnostik bei spezialisierten Psycholog*innen, Ärzt*innen zugewiesen. Selten werden Kinder aufgrund ihres doch schon früh auffälligen Verhaltens zugewiesen, meist aufgrund ihrer verzögerten Sprachentwicklung.

Eine Früherkennung vor dem dritten Lebensjahr sollte das Ziel sein. Niedergelassene Ärzt*innen sind dafür wesentliche Partner*innen, sowohl die Ärzt*innen für Allgemeinmedizin als auch die Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendheilkunde, da im Rahmen der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen entsprechende Beobachtungen gemacht werden können bzw. Fragen von Eltern auftauchen.

Bei normal entwickelten Säuglingen besteht eine sehr starke Motivation zur sozialen Interaktion und sie richten sehr früh ihre Aufmerksamkeit auf Gesichter und die Stimme anderer Menschen. Sie versuchen dann motorisch in Kontakt zu treten bzw. Blickkontakt herzustellen und ein Lächeln des Gegenübers erhöht die Motivation für diese Kontaktaufnahme deutlich.

Ein mangelnder Blickkontakt kann daher ein frühes Zeichen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung sein, darüber hinaus gibt es aber natürlich noch andere Diagnosen bei denen das auftreten kann. In Entwicklung sind hier Eye Tracking Systeme, um diese Kinder möglichst früh zu detektieren.


Häufig haben bereits die Säuglinge und Kleinkinder ausgeprägte Regulationsstörungen, diese betreffen vor allem den Schlaf. Schlafstörungen gehören zu den häufigsten frühen Zeichen, aber auch Probleme in der Ernährung wie Schwierigkeiten beim Schlucken, Saugen und Kauen bis hin zu sehr selektivem Essen (rund ein Fünftel der Kinder leidet daran), belasten die Eltern enorm. Sehr früh berichten die Eltern auch über die Neigung zu ritualisiertem Verhalten ohne flexible Reaktionen, die der Alltag aber natürlich erfordert und die konsekutiven Wutanfälle, die die Eltern massiv belasten.

Die Kinder werden oft erst zugewiesen bei ausbleibender Sprachentwicklung, tatsächlich fehlen aber bereits Vorläuferfertigkeiten von Sprache wie das Herstellen von gemeinsamer geteilter Aufmerksamkeit, das Einsetzen der Zeigegeste, aber auch das Imitieren von Gesten und vieles mehr.

Red Flags für die niedergelassenen Ärzt*innen sollten sein
- kein Brabbeln oder Lautieren im Alter von 12 Monaten
- keine Gesten mit 12 Monaten
- keine einzelnen Worte im Alter von 16 Monaten
- keine spontanen 2 Wort Sätze im Alter von 24 Monaten
- Verlust sprachlicher oder sozialer Fähigkeiten in jedem Alter

Auffällig ist auf jeden Fall auch das Spielverhalten. Die Kinder spielen wenig „so tun als ob“ bzw. Symbol- oder Phantasiespiele, interessieren sich
oft mehr für Einzelheiten von Spielsachen als für den funktionalen Gebrauch derselben.

Es ist oft schon im frühen Alter ein stark pathologisches Zeichen zu sehen, nämlich das Einsetzen der Hand des Gegenübers quasi als Werkzeug, um etwas zu erlangen. Aber auch frühe Wahrnehmungsauffälligkeiten wie eine auditive oder sensorische Über- oder Unterempfindlichkeit und Auffälligkeiten in der Raumwahrnehmung werden von den Eltern beschrieben, ebenso wie eine ausgeprägte motorische Ungeschicklichkeit.

Wichtig ist es vor allem, den Eltern zuzuhören, diese erkennen Auffälligkeiten im Schnitt zwischen 12 und 18 Monaten.

Grundsätzlich gibt es für die Praxis auch Screening Instrumente (M-Chat, CBCL, SRS, FSK, M-BAS, DISYPS-TES etc.). Bei Verdacht auf eine tiefgreifende Entwicklungsstörung sollten die Kinder entsprechend ausgebildeten Ärzt*innen bzw. Psycholog*innen zugewiesen werden.

Die Diagnose in den spezialisierten Zentren ist eine gemeinsame, interdisziplinäre (ärztliche und psychologische) Diagnose. Wichtig ist nicht nur die Diagnostik der Kernsymptomatik, sondern auch das Erfassen von Komorbiditäten und deren Behandlung.

Gleichzeitig ist die Differentialdiagnostik zu Kindern mit Sprachentwicklungsstörung, Bindungsstörungen, Deprivationssyndromen, ADHS etc. durchaus herausfordernd.


Warum ist die Früherkennung so wichtig?

Bei frühzeitiger Diagnostik, entsprechender Therapie und vor allem Begleitung des Umfeldes kommt es einerseits zu einer deutlichen Besserung der Kernsymptomatik, zu geglückten sozialen Begegnungen in den Peergroups von Kindergarten und Schule. Weiters zu erhöhter Kommunikation und Entwicklung von Sprache und klarerweise in Folge anderen Bildungswegen.

Auch die Behandlung der komorbiden Symptomatik stellt eine wesentliche Entlastung, nicht nur für die/den Betroffene/n, sondern für das gesamte System Familie dar.

Grundsätzlich ist die Diagnose über die gesamte Lebenszeit hinweg stabil, wobei sich Symptome und Ausprägungen verändern. Günstige Einflüsse auf den Verlauf haben der Schweregrad, gute kognitive Fähigkeiten, die Sprachentwicklung, Imitationsfähigkeiten, der Zeitpunkt der Diagnose und Therapiebeginn, die Ausprägung der Komorbiditäten und das soziale Umfeld.

Zur weiteren Information verweisen wir auf unsere Webseite und dürfen Sie in weiteren Artikeln noch über die Diagnostik und Therapie informie-
ren - https://www.autismuszentrum-sonnenschein.at/

bzw. auf unsere Podcastreihe, insbesondere den Podcast zur Früherkennung https://rss.com/podcasts/autismuszentrum-sonnenschein/982697/

 

Sonja Gobara

Obfrau der PKM, Leiterin des Autismuszentrum Sonnenschein

 

 

 

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