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Politische Kindermedizin ist eine Plattform engagierter Kinder- und Jugendmediziner*innen und anderer im Kinder- und Jugendbereich engagierter Berufsgruppen.

Überlegungen zur Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen

Geschrieben am .
Um eine Gesundheitsversorgung zu planen, braucht es als Grundlage ein Modell des Versorgungssystems. Dieses sollte eine grundsätzliche Vorstellung beinhalten, wo die jeweiligen Einrichtungen in der Versorgungshierarchie positioniert sind, welche Aufgaben sie zu erfüllen hätten und welche Ressourcen sie zur Erfüllung dieser Aufgaben benötigen würden.
 

Abbildung 1: modifiziertes Modell des Versorgungssystems der Gesundheit Österreich GmbH 2014

Eine Besonderheit der integrierten psychosozialen und sozialpädiatrischen
Versorgung von Kindern und Jugendlichen sind unterstützende Maßnahmen, die nicht mehr ganz der Laienversorgung zugeschrieben werden können, weil sie mit einem entsprechenden professionellen Wissen verbunden sind. Diese werden von uns als „First Points of Service“ bezeichnet. Unter „First Point of Service“ verstehen wir Dienstleister, die als erste Ansprechpartner in der Versorgung eine erste professionelle Abklärung und Handhabung der Problemlage sicherstellen. Sie sind „Türöffner“ in das professionelle Versorgungssystem, können aber nicht der „Primärversorgung“ im eigentlichen Sinn zugeordnet werden. Insbesondere haben sie nach der Anbahnung der weiteren professionellen Behandlung und Betreuung keine weiteren Koordinationsaufgaben. Es handelt sich dabei um Personen mit einem spezifischem Know How, die in einem größeren System (z.B. Kindergarten oder Schule) verortet sind, und die Aufgabe haben, dieses Know How innerhalb des Systems sicherzustellen. Sie sollen an sie herangebrachte Problemstellungen und Störungen benennen und verifizieren, den „Normalbetrieb“ unterstützen und die Notwendigkeit der Aktivierung von anderen Hilfen klar machen.
 
Der Großteil ihrer Verantwortung in Bezug auf das eigentliche Versorgungsnetz liegt in einer gewissen Grundversorgung (Krisenintervention) im eigenen System und der richtigen Anbahnung einer weiteren Behandlung oder Betreuung; gilt es doch, den Weg zu kinder- und jugendspezifischen Dienstleistern zu erleichtern und vor allem die Eltern als Entscheidungsträger über den weiteren Verlauf von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen. Dies gilt vor allem für den Bereich der Kleinkinderbetreuungsstätten, der Tagesbetreuungsstätten und der Schule. Wie sich der Ausbau der jeweiligen Gesundheitsdienste in Kindergärten und Schule in Richtung echter Primärversorger entwickelt, lässt sich noch nicht abschätzen.
 
Ein Teil der akuten psychosozialen und sozialpädiatrischen Probleme der Heranwachsenden
wird in der Laienversorgung bewältigt. Die Mehrzahl der auftretenden Probleme, insbesondere im psychosozialen Feld, braucht nicht unbedingt professionelle Hilfe im engeren Sinn.

Nach Specht (1992)
wird ein Gutteil aller akut auftretenden Probleme im engeren und weiteren
Umfeld des Kindes (Familie, Nachbarschaft, Schule, Kindergarten, Hort, Tagesbetreuungs-
stätte etc.) aufgefangen und gelöst. Der Laienversorgung kommt daher große Bedeutung zu.
Ihr Erfolg hängt einerseits natürlich von der Schwere der Problematik ab, andererseits von
den Ressourcen, über die das primäre Umfeld des Kindes die Familie und auch das sekun-
däre Kindergarten, Schule verfügen (siehe nachfolgende Abbildung 2).
 
 

Abbildung 2: Prozess der erfolgreichen Bewältigung von Auffälligkeiten (Quelle: eigene Darstellung)

 
Ist ein Kind auffällig, bedarf es erst einmal der kognitiven Ressource, die Problematik zu erkennen (erkennen zu wollen), dann gewisser materieller Ressourcen, um sich Behandlung oder Betreuung leisten zu können, sowie affektiver Ressourcen, etwa der Fähigkeit, mit der kindlichen Problematik sensibel umzugehen. Um Familie und Kindergarten oder Schule dabei zu unterstützen, gibt es ein vielfältiges Angebot zur Prävention. Ihm kommt die Aufgabe zu, das familiäre und/oder außerfamiliäre Umfeld so zu stabilisieren, dass allfällige Krisen und Auffälligkeiten produktiv gemeistert werden können. Im Idealfall gelingt es, durch ein effizientes Präventionsangebot und/oder durch Maßnahmen zur allgemeinen Gesundheitsförderung zu einer so erfolgreichen Stärkung von Ressourcen beizutragen, dass ein weiterer Behandlungsweg vermieden werden kann.
 
Falls dieser weitere Behandlungsweg aber nicht vermeidbar ist, sollten die Betroffenen über geeignete Angebote kompetent beraten werden können. Zumeist braucht es einen Primärversoger, um eine genauere diagnostische Abklärung des Problems zu erreichen.
 
Es ergibt sich eine stufenweise Versorgungshierarchie mit den dazugehörigen Aufgaben.
 
Primärversorgung
Unter Grundversorgung und Diagnostik auf dieser Ebene verstehen wir strukturierte Maßnahmen aus den verschiedenen Fachbereichen, also ärztlich-medizinische, klinisch-psychologische, funktionell-therapeutische, pädagogische, pflegerische, soziale, etc. Diagnostik. Ebenso ist der Begriff der Therapie hier weiter gefasst und umfasst spezifische Angebote einzelner Berufsgruppen, die über die entsprechende Berechtigung verfügen (siehe auch ambulante spezialisierte Versorgung). Geht man von diesem allgemeinen Begriffsverständnis aus, so lassen sich im Bereich der psychosozialen Versorgung allgemeine Beratungsstellen als Primärversorger definieren, da diese eine erste Ansprechstelle für Kinder und Jugendliche bzw. deren Familien/Eltern mit unterschiedlichsten, noch nicht spezifizierten Problemen darstellen, die eine erste Abklärung vornehmen und kompetent weitervermitteln. Der Begriff der Primärversorgung wird in der öffentlichen Diskussion hauptsächlich in einem medizinischen Kontext verwendet. Von uns wird der Begriff der Primärversorgung jedoch in seiner Bedeutung allgemeiner gefasst und dadurch auch auf andere Versorgungsbereiche übertragen.
 
Der Grund für diese Vorgangsweise liegt in der Wichtigkeit eines geordneten Versorgungssystems mit klaren Aufgaben und Wegen durch das System. Speziell im Bereich der psychosozialen Versorgung scheint die Idee einer stufenweisen Versorgung und einer gemeinsamen Verantwortlichkeit noch wenig entwickelt zu sein. So ist es auch Aufgabe der Primärversorgung, die weiteren Wege im Versorgungssystem zu koordinieren, um Doppelgleisigkeiten, Fehlzuweisungen, Versorgungssackgassen und andere Schwierigkeiten zu vermeiden Nach unseren Erkenntnissen wäre es daher notwendig, gerade die Ebene der Primärversorgung zu stärken.

Die ambulante spezialisierte Versorgung
umfasst die ambulante Erbringung von Leistungen aus den entsprechenden Gesundheitsbereichen (auch speziell diagnostische), vor allem aber die spezialisierten Therapien. Bei längerem Verlauf der Behandlung und keinem laufenden Kontakt zum ursprünglichen Primärversorger fallen dessen Aufgaben zunehmend dem Therapeuten / der Therapeutin zu. Dies beinhaltet wenigstens die Verständigung vom Beginn und von der Beendigung einer Therapie, auch wenn sie erfolgreich abgeschlossen wird. Sind weitere Maßnahmen, auch bei „Scheitern“ der Therapie, notwendig, sollte der/die Therapeut/in trachten, dass das Kind/der Jugendliche/ die Familie nicht aus der Gesundheitsversorgung herausfällt.
 
Die stationäre Versorgung hat neben der Versorgung von akuten und schwierigen Fällen, die anderswertig nicht zu behandeln sind, auch die Aufgabe, das ambulante Feld insofern zu stützen, dass es sich darauf verlassen kann, dass bei allfälliger Dringlichkeit eine Aufnahme möglich ist. Durch eine derartige Stützung können die ambulanten Dienste auch schwierigere Fälle länger betreuen. Dazu benötigt aber z.B. die stationäre Kinderpsychiatrie auch die entsprechenden Ressourcen, um flexibler reagieren zu können.
 
Fazit
Fehlende Ressourcen auf einer Ebene des Versorgungssystems wirken sich auf das Gesamtsystem aus. Entweder kann dann ein anderer, meist aufwändigerer Weg innerhalb des Versorgungsystems gefunden werden, oder aber die Probleme der Kinder und Jugendlichen chronifizieren und werden immer schwieriger bis gar nicht mehr zu bewältigen. Das Modell dient daher auch den Verantwortlichen herauszufinden, an welchen Schrauben im System zu drehen ist, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Aber dafür muss sich erst ein Bewusstsein für eine gemeinsame Verantwortung aller Entscheidungsträger für diese Kinder und Jugendlichen entwickeln, die eine gemeinsame klare Gesundheitsplanung zur Folge hat.

 
Ernst Tatzer
Vorstandsmitglied der PKM;
Ehem. Leiter des NÖ Heilpädagogischen Zentrums Hinterbrühl


Literatur:
  1. Nach Tatzer E., Klicpera D., Mayer U., Fliedl R.(2016): NÖ Kinder- und Jugendplan Projektbericht, siehe Planung eines landesweiten Versorgungsnetzwerks am Beispiel Niederösterreich | Pädiatrie & Pädologie (springer.com)
  2. Die Sozialpädiatrie befasst sich allgemein mit den Bedingungen für Gesundheit und Entwicklung sowie mit deren Störungen und Auswirkungen. Demnach fallen sowohl somatische Probleme als auch Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen unter den Begriff der sozialpädiatrischen Problemstellungen.
  3. Specht, F. (1992). Kinder- und Jugendpsychiatrie wie, wo, für wen? Fragen der Versorgung und Versorgungsforschung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 41 (3), S. 83-90.
  4. Schon vor der Pandemie benötigten 20 25 aller Kinder und Jugendliche eine spezielle Unterstützung (Ravens-Sieberer, U.; Wille, N. & Erhart, M. (2007)). Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Ergebnis aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) - Bundesgesundheits- Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz, 50, S. 871-878. Dies wurde durch die Pandemie noch verschärft.
 
 

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